RESTITUTION VON NS-RAUBKUNST
UND DER „ANSPRUCH AUF EINE RECHTSLAGE“
von Henning Kahmann
zuerst veröffentlicht in Barbara Vogel (Hg.): Restitution von NS-Raubkunst
Der historisch begründete „Anspruch auf eine Rechtslage“.
Beiträge einer Veranstaltung der Historischen Komission beim Parteivorstand der SPD, Essen 2016.
Restitution von NS-Raubkunst heute und der „Anspruch auf eine Rechtslage“
Im Folgenden soll das Thema NS-Raubkunst anhand dreier typischer Praxisbeispiele vorgestellt werden. Dabei zeigt sich, dass die Rechtslage — also wer gegen wen welche Ansprüche woraus hat — oft nur eine untergeordnete Rolle spielt. In den häufigen Fällen nämlich, in denen es um Kunstwerke im Bestand von staatlichen Museen geht, ist wichtiger als die Frage, wer Eigentümer eines Kunstwerkes ist, oft die Frage, welche politischen Verpflichtungen die Träger der deutschen Museen eingegangen sind. Der Träger eines Museums ist übrigens der, der es betreibt, z.B. ein Bundesland. Ich spreche hier meist vereinfachend vom Museum.
Zunächst soll der Gegenstand der Restitutionsbemühungen definiert werden, die so genannte NS-Raubkunst. Danach werden die wichtigsten politischen Appelle vorgestellt, die es in diesem Bereich gibt. Sie bilden die Maßstäbe, nach denen die Beispielsfälle, die dann geschildert werden, typischerweise gelöst werden. Alle Fälle spielen in Deutschland. Das heißt, der Verlust des Werkes trat in der NS-Zeit in Deutschland auf. Das Werk wird heute in Deutschland gefunden. Im ersten Beispielsfall wird das Werk in einem deutschen öffentlichen Museum gefunden, und die Beweislage ist sehr klar. Der zweite Fall ist wie der erste, nur wissen wir weniger. Im dritten Fall wird das Werk bei einer Privatperson gefunden, kurz bevor es bei einem Auktionshaus versteigert werden soll.
Definition „NS-Raubkunst“
Ursächlichkeit der NS-Verfolgung
Mit „NS-Raubkunst“ oder nur „Raubkunst“ bezeichnet man Kunstwerke, die ihr Eigentümer wegen NS-Verfolgung verloren hat. Anders gewendet. Der Eigentümer muss NS-Verfolgter, also z.B. Jude, gewesen sein. Dieser Eigentümer muss das Eigentum an einem Kunstwerk eingebüßt haben‚ und seine Verfolgung muss ursächlich für den Verlust gewesen sein. Zusammenfassend kann man von „NS-verfolgungsbedingt entzogener“ Kunst sprechen. Ursächlichkeit ist keine bloß juristische Kategorie. Man muss also kein Jurist sein, eigentlich noch eher Historiker, um zu entscheiden, ob ein Werk Raubkunst ist oder nicht. Es gibt aber auch Kunstwerke, bei denen man an Raubkunst denken könnte, die aber keine sind. Hier muss man genau unterscheiden.
Was nicht NS-Raubkunst ist
In Presse, Funk und Fernsehen sowie im Kino wird häufig ein deutlich weiterer Raubkunstbegriff verwendet. Es wird nämlich oft ohne weitere Prüfung und Diskussion unterstellt, dass alle Kunstwerke, die NS-Funktionäre für sich oder für den Staat erworben haben, Raubkunst seien. In Medienberichten zum Stichwort Raubkunst werden oft Bilder, z.B. von amerikanischen Soldaten wie den „Monuments Men“, gezeigt, die in großen Kunstdepots, etwa in barocken Kirchen oder Bergwerken stehen. In der Bildunterschrift steht oder der Kontext suggeriert: Das alles haben die Nazis geraubt. Die meisten in solchen Depots untergebrachten Kunstwerke waren aber solche, die schon lange vor 1933 ihren staatlichen oder privaten Eigentümern gehört hatten, sind also keine Raubkunst.
Und was Kunstwerke angeht, die von NS-Funktioniären erworben wurden: Nur weil ein Werk im Besitz eines Kunsträubers ist, heißt das noch lange nicht, dass er das Werk auch geraubt hat. NS-Funktionäre haben sich schließlich nicht nur bei Juden Kunstwerke beschafft. Wenn NS-Funktionäre von Nichtverfolgten Kunstwerke kauften, erfolgte dies häufig ohne Zwang. Ich überlasse es der Historikerzunft zu untersuchen, ob das nicht sogar häufiger der Fall war. Wenn ein NS-Funktionär Kunst von einem Nicht-Verfolgten gekauft hat, kann man aber nur ausnahmsweise von Raubkunst sprechen, und zwar dann wenn einer der Vorerwerber das Werk in der NS-Zeit von einem NS-Verfolgten erworben hat. Auch so genannte entartete Kunst ist etwas ganz anderes als NS-Raubkunst. Hier hat sich der deutsche Staat selbst geschädigt. Er hat nämlich Kunstwerke aus seinen Beständen entfernt und zumeist verkauft, teilweise auch vernichtet. Im staatlichen Institutionengefüge mögen die Museen das Opfer anderer staatlicher Institutionen geworden sein. Die staatlichen Museen aber waren und sind Teil des „Täterstaats“. Sie wurden also nicht verfolgt. Die Opferrolle deutscher staatlicher Museen darf nicht mit der Opferrolle NS-Verfolgter, z.B. der Juden, gleichgesetzt werden.[1] Wenn der Staat Private zur Herausgabe von solcher „entarteter Kunst“ zwang, kann man zwar von einem Zwangsverlust und von einer Opferrolle der Privaten sprechen, aber nicht von NS-Raubkunst. Probleme, die damit verbunden sind, gehören nicht hierher.
Beispiel 1: Zuweisung eines Kunstwerks an ein Museum durch die Gestapo 1940
Eine jüdische Dame flieht 1940 vor der Verhaftung durch die Gestapo. Sie lässt ihren Hausrat in der Wohnung zurück, darunter auch ein Kunstwerk. Die Gestapo konfisziert den Hausrat. Sie legt das Kunstwerk dem Kunstsachverständigen der Devisenstelle vor. Das waren meistens die Leiter der führenden regionalen Museen. In Hamburg war dies zu dieser Zeit der kommissarische Leiter der Hamburger Kunsthalle Werner Kloos. Der Kunstsachverständige hält das Werk für museumswürdig. Die Gestapo überweist das Werk an das staatliche Museum. Das Museum zahlt einen Betrag an die Devisenstelle. In der Obhut des Museums übersteht das Werk den Krieg. Dort wird es heute gefunden. Typischerweise lautet die Prüfungsfrage für den Juristen: Wie ist die Rechtslage? Stattdessen lautet hier die Frage: Wie ist die Restitutionspraxis?
In einem solch klaren Fall würden vermutlich alle deutschen staatlichen Museen das Werk an die NS-Verfolgten oder ihre Nachfolger zurückgeben. Auf die Frage, wem das Werk gehört und wer Herausgabeansprüche darauf hat, kommt es in einem solchen Fall typischerweise nicht an. Unabhängig von der Eigentumslage sind die deutschen öffentlichen Museen heute nämlich bereit, solche Werke zurückzugeben oder einen finanziellen Ausgleich dafür zu zahlen. Hierzu wird meist eine Vereinbarung mit den Nachfolgern der Verfolgten geschlossen. Die Gestaltung der Rechtslage durch Vereinbarung geht ja grundsätzlich der gesetzlich gestalteten Rechtslage vor. In den meisten Bundesländern wurden auch die Haushaltsgesetze so geändert, dass der Abschluss solcher Vereinbarungen ausdrücklich erlaubt wird.
Politische Appelle als Rahmenbedingungen
Washingtoner Prinzipien von 1998
Die oben beschriebene typische Praxis folgt einem politischen Appell. Im Jahre 1998 hielten eine ganze Reihe von Staaten, darunter auch Deutschland, in Washington eine Konferenz zum Thema Raubkunst ab. Eine gesetzliche Lösung, die für jedes teilnehmende Land gepasst hätte, konnte es nicht geben. Man einigte sich daher ausdrücklich auf „nicht bindende Grundsätze“, also auf einen politischen Appell. Er richtete sich an die 44 Teilnehmerstaaten und an Privatpersonen. Die meisten der elf Prinzipien, die die Konferenz in Washington verabschiedete, betreffen die Beschaffung und Verbreitung von Informationen über den Verbleib von Kunstwerken. Das wichtigste Prinzip ist ein Appell, wonach in Raubkunstfällen Schritte unternommen werden sollen, um „eine gerechte und faire Lösung zu finden“. Die Staaten riefen in Washington einander auf, innerstaatliche Verfahren zur Umsetzung der Prinzipien zu entwickeln.
Gemeinsame Erklärung von 1999
Zu diesem Zweck verabschiedeten 1999 die Bundesregierung, die Länder und die kommunalen Spitzenverbände eine Gemeinsame Erklärung. Daraus geht hervor, was die deutsche öffentliche Hand unter einer „gerechten und fairen“ Lösung einer Raubkunstproblematik versteht: Nämlich grundsätzlich die Restitution des Werkes aus staatlichem Besitz. Treibend war damals der Sozialdemokrat Michael Naumann als Kulturstaatssekretär. Auf Initiative Hamburgs hat der Bundesrat die Gemeinsame Erklär rung im März 2014 noch einmal bekräftigt. Dabei hat der Bundesrat der Bundesregierung aufgegeben zu prüfen, ob gesetzliche Änderungen der Rechtslage erforderlich sind. Die Bundesregierung hat sich noch nicht dazu geäußert, ob die Nachfolger einen Anspruch auf eine (verbesserte) Rechtslage haben.
Handreichung vom Februar 2001
Die Autoren der Gemeinsamen Erklärung und öffentliche Kulturstiftungen verabschiedeten im Februar 2001 die so genannte Handreichung. Es handelte sich gewissermaßen um Ausführungsempfehlungen zur Gemeinsamen Erklärung von 1999 und damit der Washingtoner Prinzipien von 1998.
Politischer Anspruch
Der deutsche Staat ist auf allen seinen Ebenen mit den oben genannten Dokumenten politische Verpflichtungen eingegangen. Ein staatliches Museum würde daher ein Kunstwerk wie das im Beispielsfall 1 typischerweise restituieren. Schließlich war die Ursache des Eigentumsverlusts bei der jüdischen Dame ihre Verfolgung durch den Staat. Dahinter steht die Wertung: Solch ein Werk steht dem deutschen Staat nicht zu.
Beispiel 2: Kauf eines Kunstwerks im Juli 1935 durch ein staatliches Museum
Im zweiten Fall verkauft ein jüdischer Bankier im Juli 1935 ein Kunstwerk an ein staatliches Museum. Der Kaufpreis ist bekannt. Das Bild wird heute in einem staatlichen Museum gefunden. Wieder lautet hier die Frage: Wie ist die Restitutionspraxis? Typischerweise würde ein staatliches Museum so ein Werk restituieren.
Vermutungsregelung
Die wichtigste Voraussetzung, von der die Museen in der Praxis die Restitution abhängig machen, ist die Ursächlichkeit der NS-Verfolgung für den Kunstverlust. Mit den vorhandenen Angaben zum Sachverhalt allein kann man aber nicht beurteilen, ob die Verfolgung des Bankiers in der NS-Zeit die Ursache des Verkaufs war. Manchmal hat man in der Praxis keine besseren Informationen. Theoretisch sind für den Verkauf alle möglichen anderen Gründe denkbar: Beispielsweise Finanzbedarf wegen schlechtgegangener Geschäfte oder einfach, dass man sich lieber von dem eingenommenen Geld etwas anderes kaufen will.
Hier kommt eines der Washingtoner Prinzipien ins Spiel. Danach soll bei dem Nachweis, dass ein Werk Raubkunst ist, berücksichtigt werden, dass heute Wissenslücken bestehen. Bund, Länder, Gemeinden und große Kulturstiftungen haben dafür in der Handreichung eine Lösung gefunden. Bei der Prüfung eines Restitutionsverlangens sollen die Museen den „Leitlinien der rückerstattungsrechtlichen Praxis der Nachkriegszeit“ folgen. Wichtiger Bestandteil der Nachkriegspraxis waren Art. 3 der von den Westalliierten erlassenen Berliner Rückerstattungsanordnung von 1949[2] und die praktisch gleichlautenden entsprechenden Regelungen in den Westzonen. Danach wird bei einem Verkauf durch einen NS-Verfolgten in der Zeit von 1933 bis 1945 vermutet, dass die Ursache des Verkaufs die NS-Verfolgung war. Die Vermutung kehrt die Beweislast um. Aus diesem Grund muss der Erwerber beweisen, dass der NS-Verfolgte nicht unter Zwang verkauft hat. Kann der Erwerber das nicht, muss er restituieren.
Allerdings haben die Westmächte anerkannt, dass es auch „ganz normale“ Geschäfte zwischen Verfolgten und Nichtverfolgten gab. Die gesetzliche Vermutung kann also widerlegt werden. Dazu kann aber der Erwerber nicht jedes beliebige Argument vorbringen. Um zu widerlegen, dass die NS-Verfolgung des Verkäufers ursächlich für den Verlust des Werks war, muss der Besitzer beweisen, dass der Veräußerer
• einen angemessenen Kaufpreis erhalten hat und
• über den Kaufpreis frei verfügen konnte.
Bei der Vermutungsregelung ist zu beachten: Es kommt nicht darauf an, ob sich der Erwerber unmoralisch verhalten hat. Mit der Restitution ist kein Schuldvorwurf an den Erwerber verbunden.
Im Beispielsfall 2 gelingt die Widerlegung der Vermutung nicht. Da sich die Museen meist an die Handreichung halten, würde das Bild restituiert werden. Wir wissen nämlich nur, wie hoch der Kaufpreis war. Ob der Kaufpreis angemessen war oder ob das Bild mehr wert war, als bezahlt wurde, wissen wir nicht.
Selbst wenn das Museum zeigen könnte, dass es damals mit dem jüdischen Bankier einen fairen Kaufpreis vereinbart hatte, so reicht das noch nicht, um das Werk behalten zu können. Das Museum muss zweitens zeigen, dass der Verfolgte das Geld auch tatsächlich zur freien Verfügung erhalten hat. Oftmals war es nämlich so, dass der Käufer zwar gezahlt hat, der Verkäufer aber das Geld verwenden musste, um diskriminierende Abgaben zu zahlen. Ob das Geld in die freie Verfügung des Verkäufers gelangte, wissen wir nicht; auch das ist ein Grund für die Restitution.
Nun darf nicht der Eindruck entstehen, die Restitution von Kunstwerken aus deutschen Museen sei wegen der Vermutungsregelung ein leichtes Unterfangen. Man muss nämlich erst einmal in den Anwendungsbereich der Vermutungsregelung kommen. Bis dahin ist es ein steiniger Weg für denjenigen, der die Restitution eines Kunstwerks fordert.
„Gerecht und fair“?
Ist eine solche Beweislastverteilung „gerecht und fair“? Es wird dem Museum schwer gemacht, das Werk zu behalten, wenn es dies von einem NS-Verfolgten erworben hat. Die Vermutungsregelung führt zur Restitution, selbst wenn Indizien vorliegen, die dafür sprechen, dass der Verfolgte in diesem einen speziellen Fall gerade nicht wegen Verfolgung verkaufte. Solche Indizien bleiben außer Betracht. Nur wenn der Besitzer zeigen kann, dass der Verfolgte einen angemessenen Kaufpreis zur freien Verfügung erhalten hat (und also aus dem Geschäft keinen unmittelbaren wirtschaftlichen Schaden erlitten hat), kann er das Bild nach der Handreichung behalten. Manche Museumsleute empfinden das als Härte und als ein Übermaß an Wiedergutmachung, wenn man gar nicht so genau weiß, ob hier dem NS-Verfolgten im konkreten Fall wirklich Schaden zugefügt wurde.
Ohne die Vermutungsregelung wäre es aber schon nach dem Krieg vielfach nicht zur Wiedergutmachung von Vermögensverlusten gekommen. Der Begriff „Wiedergutmachung“ ist — wie der Begriff der Raubkunst — ungenau. In der Praxis wird er als Oberbegriff für Restitution und Entschädigung verwendet. Er soll nicht suggerieren, dass man das Unrecht der NS-Zeit ungeschehen machen kann. Den Beweis dafür, dass die NS-Verfolgung die Ursache des Verkaufs eines bestimmten Kunstwerks gewesen ist, hätte man nach dem Krieg nur ausnahmsweise erbringen können. Bei der Mehrzahl der Fälle hätte es dann also ohne die Vermutungsregelung keine Wiedergutmachung gegeben. Da es belegt ist, dass die Verfolgung durch Staat und Partei von Anfang an die wirtschaftlichen Grundlagen der Juden angriff, also eine typische Verlustursache war, wäre die normale Beweislast auch ungerecht gewesen.
Die Westalliierten mussten sich also entscheiden, wem sie Härten zumuten wollten: Den NS-Verfolgten oder den Erwerbern. Sie haben sich dafür entschieden, die Härten im Zweifel den Erwerbern zuzumuten. Ich halte die damalige Entscheidung für richtig. Es ist ebenfalls gerecht, wenn diese Regelung noch heute im Bereich der Kunstrestitution gilt. Das gilt insbesondere, wenn sich das Kunstwerk heute in einem staatlichen Museum befindet. Dem „Täterstaat“ sind nämlich mögliche Härten bei der Wiedergutmachung des von ihm begangenen Unrechts zumutbar.
Die Behrens-Empfehlung der Limbach—Kommission
Im Februar 2015 hat die Limbach-Kommission eine Empfehlung in der Sache Behrens abgegeben.[3] Diesem Fall habe ich das Beispiel 2 nachgebildet. Die Limbach-Kommission ist eine Gruppe sehr honoriger Personen, eine Art Weisenrat unter Vorsitz der Sozialdemokratin und früheren Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach, der bei Streit um NS-Raubkunst angerufen werden kann und unverbindliche Empfehlungen abgibt. Die Einrichtung der Kommission geht auf eines der Washingtoner Prinzipien zurück. Die Limbach-Kommission hat sich in anderen Fällen viele Verdienste erworben. In diesem Fall nicht. Bei ihrer Empfehlung zum Fall Behrens hat die Limbach-Kommission nämlich die „faire und gerechte“ Vermutungsregelung unberücksichtigt gelassen. Ich darf betonen: Hier geht es nicht um einen Fall meiner Kanzlei.
Der Fall liegt etwa so wie der oben skizzierte Beispielsfall 2: Der Hamburger Bankier Behrens — er galt nach den Regeln der Nationalsozialisten als Jude — verkaufte wahrscheinlich im Juli 1935 ein Kunstwerk an die Stadt Düsseldorf oder an eine Düsseldorfer Galerie. Der Kaufpreis ist bekannt. Das Werk befindet sich heute in einem Düsseldorfer Museum.
Die Limbach-Kommission meint, jüdische Bankiers seien im Iuli 1935 noch nicht kollektiv verfolgt gewesen. Individuelle Verfolgungsmaßnahmen gegen Behrens seien nicht ersichtlich. Schon deshalb scheide NS-Verfolgung als Verlustursache aus. Außerdem legt die Kommission die Beweislast für die Angemessenheit des Kaufpreises den Behrens-Erben auf. Zudem spielt es bei ihr keine Rolle, dass die Stadt Düsseldorf nicht nachweisen kann, dass das Geld tatsächlich in die freie Verfügung von Behrens gelangte.
Es sind Zweifel daran angebracht, ob es der Limbach-Kommission zusteht, von den schon seit rund 15 Jahren geltenden und weithin praktizierten Maßstäben abzuweichen, die die Verfasser der Handreichung für die Lösung von Raubkunstfällen empfehlen. Wegen mancher Schnitzer[4] in der Empfehlung der Limbach-Kommission bei der Darstellung des historischen Sachverhalts ist anzunehmen, dass hier ein Ausrutscher ohne Vorbildwirkung vorliegt.
Beispiel 3: Wie Beispiel 2, aber Fund bei einem Privaten
Im dritten, dem letzten Beispiel liegt der Fall liegt ähnlich wie im Beispiel 2. Allerdings war der Käufer dieses Mal nicht der Staat, sondern ein Privatmann, Es ist nicht bekannt, dass er selbst Verfolgungsmaßnahmen ausgeübt hat. Der Privatmann vererbt das Werk. Die Erben geben es einem Auktionshaus zur Versteigerung. Die Erben der NS-Verfolgten finden das Werk im Versteigerungskatalog und machen geltend, ihnen stehe für den Verlust noch eine Form von „Wiedergutmachung“ zu.
Wie ist hier die Restitutionspraxis? Es gibt zwei typische Lösungen des Falles.
Das Bild verschwindet wieder
Ein typisches Ergebnis ist, dass das Auktionshaus das Bild aus der Versteigerung nimmt, es dem Einlieferer zurückgibt und keine weitere Auskunft über Werk und Einlieferer erteilt. Selbst wenn man weiß, wer das Bild eingeliefert hat: Nur in ganz besonderen Fällen hätte man einen Heraus- gabeanspruch. Der Einlieferer kann das Werk in der Regel wieder in sein Wohnzimmer hängen und behalten. Auch die Washingtoner Prinzipien und die Gemeinsame Erklärung helfen nicht. Der politische Appell richtet sich zwar auch an Privatleute. Es ist aber ihre Sache, ob sie dem Appell nachkommen oder nicht. Das Ergebnis ist eine Hängepartie Sie ist für alle Seiten unbefriedigend.
Immerhin kann das Werk nicht versteigert werden. Das liegt nicht an einem Verkaufsverbot, sondern am Markt: Ein Raubkunstverdacht führt dazu, dass viele Menschen nicht bereit sind, solch ein Werk zu kaufen, jedenfalls nicht zu seinem eigentlichen Wert. Hier ist die Deutsche Stiftung Kulturgutverluste hilfreich, die das Lost Art-Register betreibt. Es dokumentiert unter www.lostart.de öffentlich Raubkunst- und Raubkunstverdachtsfälle. Ohne diese Dokumentation wäre ein solches Kunstwerk nämlich noch zum vollen Preis verwertbar, weil niemand wüsste, dass das Kunstwerk eine problematische — preismindernde — Provenienz hat. Bis vor kurzem stand es übrigens auf der Kippe, ob das Register seine Funktion zur Dokumentation (auch streitiger) Raubkunst- und Raubkunstverdachtsfälle fortsetzen könne. Das Bundesverwaltungsgericht entschied nämlich am 19. Februar 2015, dass das Lost Art-Register diese Funktion ausüben könne, obwohl seine Tätigkeit nicht gesetzlich geregelt ist.[5]
Gütliche Einigung
Befriedigender ist der andere typische Fortgang des Verfahrens: Die Erben des Erwerbers und die Erben der NS-Verfolgten einigen sich und stellen so Rechtsfrieden her.
Die Erben der NS-Verfolgten erklären ihre Zustimmung zum Verkauf und verzichten vorsorglich auf alle Rechte, die ihnen möglicherweise an dem Werk noch zustehen. Eine solche Zustimmung macht das Werk wieder voll verkehrsfähig. Es erhält gewissermaßen seinen eigentlichen Wert wieder. Und weil niemand die NS-Verfolgten zwingen kann, dem Einlieferer einen Gefallen zu tun, werden sich die Parteien darauf einigen, dass die NS-Verfolgten einen Teil des Verkaufserlöses erhalten. Die Höhe der Quote, auf die sich die Parteien einigen, hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem von der Beweislage. Immerhin stehen den Erben der Verfolgten in solchen Fällen der Markt und das staatliche Lost Art-Register zur Seite, jedenfalls dann, wenn der Besitzer versucht, das Werk zu Geld zu machen.
Fazit zur Restitutionspraxis
In den hier skizzierten Fällen kommt es für die Lösung des Falls nicht in erster Linie auf die Rechtslage an, also auf die Erörterung der Frage, wer Eigentümer des Werks ist. Die politischen Verpflichtungen der öffentlichen Hand zur freiwilligen Restitution per Vertrag und die verminderte Verkehrsfähigkeit von Raubkunst sind wichtiger als ein gesetzlicher Herausgabeanspruch. Es gibt ein einigermaßen funktionierendes System zum Umgang mit Kunstwerken, die ihren Eigentümern wegen NS-Verfolgung verloren gingen. Es führt in einer Vielzahl von Fällen zu „gerechten und fairen“ Lösungen. Gegenüber einem privaten Besitzer haben die Erben der NS-Verfolgten in dieser Restitutionspraxis eine schwächere Stellung als gegenüber einem staatlichen Museumsträger. Es gibt für diese Unterscheidung Argumente: Der „Täterstaat“ trägt gegenüber seinen früheren Opfern und deren Nachfolgern mehr Verantwortung als die Nachfolger von privaten Erwerbern, die im Zweifel selbst keine Verfolgungsmaßnahmen ausgeübt haben. Das heißt nicht, dass man in diesem Bereich nichts verbessern kann. Es gibt zum Beispiel Fälle, in denen der Staat privaten Sammlern Zuschüsse zum Betriebe von Museen für ihre Sammlungen gewährt. Es spricht viel dafür, die weitere Gewährung solcher Zuschüsse davon abhängig zu machen, dass sich der private Sammler an die Washingtoner Erklärung und die deutschen Umsetzungserklärungen hält.[6] Das System, das sich seit den Washingtoner Prinzipien herausgebildet hat, lebt nicht zuletzt von einem politischen Konsens, wie er in der Gemeinsamen Erklärung von 1999 zum Ausdruck kommt. In letzter Zeit mehren sich Stimmen, die von diesem Konsens abweichen.[7] Vor diesem Hintergrund hat auch die Hamburger Initiative zur Bekräftigung der Gemeinsamen Erklärung einen Beitrag zur gerechten und fairen Lösungen geleistet.
Fazit zum „Anspruch auf eine Rechtslage“
Ob und welche gesetzgeberischen Veränderungen notwendig sind, ist aber eine schwierige Frage.[8] Es könnte sein, dass man vielleicht sogar bei der Mehrzahl der Fälle gesetzlich nichts mehr machen kann, jedenfalls dann, wenn sich die Kunst bei Privatpersonen befindet. Ich bin hier offen gestanden, unsicher, ob der Staat in diesem Bereich gesetzlich tätig werden sollte. Außerdem stellt sich die politische Frage, ob der Staat die Haftung von Privaten verschärfen kann, solange er sich nicht an die selbst eingegangenen Pflichten hält und nicht dafür sorgt, dass diese Maßstäbe wenigstens von allen staatlichen Stellen eingehalten werden. Dringender und einfacher zu erreichen als ein neues Gesetz wäre jedenfalls, dass die Washingtoner Prinzipien wenigstens von staatlichen Museen umgesetzt werden. Da käme es zunächst darauf an, dass sich die staatlichen Museen nicht einfach über die Handreichung (und die dadurch umgesetzten Washingtoner Prinzipien) hinwegsetzen. Ich bin aber auch hier noch nicht am Ende meiner Überlegungen angekommen, ob man eine solche Pflicht durch gesetzliche Regelungen einführen sollte. Einerseits wäre der Gedanke reizvoll, dass man als Nachkomme eines Verfolgten jedenfalls gegenüber der öffentlichen Hand einen echten Anspruch auf eine behördliche Entscheidung nach den „Leitlinien der rückerstattungsrechtlichen Praxis der Nachkriegszeit“, wie es in der Handreichung heißt, hätte. Andererseits: Das auszuformulieren, und zwar so, dass es den Gegnern der bisherigen Praxis nicht gelingt, die Maßstäbe gesetzlich zu verschärfen, dürfte schwierig sein. Die Forderung nach einem solchen Gesetz würde also auch Risiken bergen. Gegen gesetzliche Änderungen spricht wohl auch, dass damit viel politisches und administratives Kapital verbraucht werden würde. Dies könnte bei anderen konkreten Problemlösungen fehlen, z.B. bei der Bereitstellung von Informationen. Die Debatten um die Verschärfung der Maßstäbe gegenüber Privaten[9], etwa durch Änderungen im Verjährungsrecht, scheinen mir solches Kapital zu verbrauchen, und zwar nicht sehr effizient. So muss ich denn zugeben, dass ich meiner Themenstellung nicht ganz gerecht werde. Wie „Restitution heute“ erfolgt, habe ich schildern können. Ob es aber einen „Anspruch auf eine Rechtslage“, also einen politischen Anspruch auf eine Verbesserung der gesetzlichen Situation gibt, lasse ich offen. Es müsste zunächst jemand ein durchdachtes, umfassendes Gesetzeskonzept entwickeln und sich politisch mit Überzeugungskraft dahinter stellen. Dann würden wohl die Chancen eines Gesetzgebungsverfahrens dessen Risiken überwiegen. Leider ist eine solche Konzeption noch nicht in Sicht.
Handlungsbedarf: Dokumentation von Verdachtsfällen
Aber während ein solches Konzept vielleicht im Werden begriffen ist, sind auch bei der jetzigen Rechtslage Verbesserungen vorstellbar, wenn es um das Einhalten der politischen Pflichten der Washingtoner Erklärung geht, nämlich im Bereich der Information. Es widerspricht der Washingtoner Verpflichtung zur Sammlung und Offenbarung von Informationen, dass die staatlichen Museen des „Täterstaats“ nicht schon längst alle auch nur verdächtigen Werke, also alle Werke, bei denen nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie in der NS-Zeit im von Deutschland beherrschten Europa den Besitzer gewechselt haben, öffentlich im Netz dokumentiert haben. Am besten sollte das zusammen mit den vorliegenden Informationen über die Provenienz der Werke erfolgen. Eine Reihe von Museen, wenn auch zu wenige, gehen diesen Weg.
Der Vorschlag gilt für alle Fälle eines abstrakten Verdachts. Nur wenn die abstrakten Fälle öffentlich sind, können die Erben der Verfolgten diese Kunstwerke mit den Informationen vergleichen, die sie über Kunstverluste haben. Wenn ein abstrakter Verdacht auf diese Weise etwas konkreter wird, können Provenienzforscher ihre Recherchen auf ein solches Objekt konzentrieren. Und so können (in manchen Fällen) vielleicht sogar wirklich NS-Raubkunstfälle ermittelt werden. Das liegt auch im Interesse der Museen: Je länger sie die Existenz der Werke dokumentiert haben, desto sicherer können sie sein, dass mit der Provenienz der Werke alles in Ordnung ist.
Viele Museen beschränken sich aber darauf, nur Fälle öffentlich zu machen, in denen ein konkreter Raubkunstverdacht besteht, wenn also einiges darauf hindeutet, dass nicht nur ein Eigentumswechsel in der NS-Zeit vorlag, sondern dass er unfreiwillig erfolgte. Das hat den großen Nachteil, dass das betreffende Museum dazu erst einmal intensive und teure Recherchen durchführen muss. Es wird in den Museen kaum jemals ausreichend Ressourcen geben, um alle Werke genau zu überprüfen. Selbst bei der im Vergleich zu staatlichen Beständen relativ kleinen Sammlung Gurlitt wird es Jahre dauern, bis die Provenienz jedes Werks handwerklich ordentlich erforscht ist. Diese Methode ist sogar besonders fehleranfällig, weil das Wissen derjenigen, die die Werke verloren haben, häufig nicht mit dem Wissen der Museen verbunden werden kann und weil die Recherchemöglichkeiten der ehemals verfolgten Familien — und der von Ihnen beauftragten Rechtsanwälte und Rechercheure — zu einem großen Teil ungenutzt bleiben. Außerdem kann die jetzige Methode dazu dienen, das Thema “Wiedergutmachung“ ins Unendliche zu verschieben. Die Bemühungen der Museen und die Zuteilung von Fördergeldern sollten aus diesen Gründen verstärkt auf die Finanzierung solcher Dokumentationen gerichtet sein.
Es gibt Beispiele für die Umsetzung meines Vorschlags im Ausland: In den Niederlanden werden auf einer staatlich betriebenen Website[10] abstrakte Verdachtsfälle mit kurz gefassten Ergebnissen zeitlich bewusst begrenzter Recherchen aufgeführt. Dokumentiert sind die Werke der Nederlands Kunstbezit-Collectie. Genannt werden rund 4.000 Werke, die deutsche staatliche wie private Stellen während der Besetzung der Niederlande aus niederländischen Sammlungen (meist durch Kauf) erwarben. In London hat die National Gallery seit 1999 alle 120 Werke öffentlich dokumentiert, bei denen ein abstrakter Raubkunst-Verdacht besteht.[11] Beide Beispiele legen übrigens nahe, dass sich weder die Erben von früheren NS-Verfolgten zu große Hoffnungen machen dürfen, noch dass die Museen zu große Befürchtungen um ihre Depots hegen müssen. Die niederländische Datenbank mit rund 4.000 Verdachtsfällen war zwischen 2001 und Ende 2014 Ausgangspunkt von 130 Restitutionsanträgen, die zumeist mehrere Werke betrafen. In 116 Empfehlungen wurde 61 Anträgen vollständig stattgegeben, 38 Anträge wurden vollständig abgelehnt. Bei 18 Anträgen hatten die Antragsteller Teilerfolge.[12] Von den seit gut 15 Jahren von der National Gallery in London dokumentierten Verdachtsfällen ist bisher noch kein einziges von einer ehemals verfolgten Familie beansprucht worden. Welchen — je nach Blickwinkel — Erfolg oder Misserfolg auch immer die digitale Dokumentation der Raubkunst-Verdachtsfälle für die an Restitutionsfragen Beteiligten bringen würde: Kunsthistorisch jedenfalls würde es einen großen Gewinn darstellen, wenn als Nebenprodukt der Washingtoner Prinzipien viel mehr Werke und Provenienzinformationen als bisher für jedermann nutzbar werden würden. Das allein wäre der Mühe wert.